Mit den siebenbürgischen Nachbarschaften, einer Organisationsform in den Sachsensiedlungen, bin ich das erste Mal in Neppendorf, einem Stadtteil von Sibiu (dt. Hermannstadt) in Berührung gekommen. In meinem Beitrag -> Siebenbürger Sachsen und die Transmigration der Landler am Beispiel von Turnișor (Neppendorf) hatte ich ganz kurz über diese „Nahen“ berichtet. Zunächst möchte ich aber näher auf die sog. „Volksordnung“ in Siebenbürgen im 19. Jhdt. eingehen, die das gesellschaftliche Leben der Siebenbürger Sachsen über Jahrhunderte hinweg bestimmt hatte.
Die drei Stände und die Organisation der Verwaltung
Seit ihrer Ansiedlung in 12. Jhdt. durch den ungarische König Géza II. waren die Siebenbürger Sachsen nur dem ungarischen König unterstellt und hatten den Auftrag, die sogenannte terra regis (den Königsboden) zu erschliessen. Bereits 1224 wurden ihnen im Andreanum (-> Goldener Freibrief) weiterreichende Sonderrechte und Privilegien eingeräumt, die später in den -> Sieben Stühlen ihren Niederschlag fand. Diese Sonderstellung endete mit dem -> Österreichisch-Ungarischen Ausgleich von 1867, durch den Siebenbürgen ein Teil des ungarischen Staatsgebiets wurde, das 1918 an Rumänien abgetreten wurde.
Seit dem hohen Mittelalter war das Fürstentum Siebenbürgen in drei Stände (drei konstituierenden Nationen) gegliedert. Den ungarischen Adel, die Szekler und die Siebenbürger Sachsen.
Die Szekler wurden um 1140 im Osten des ungarischen Reiches angesiedelt und genossen wie die Siebenbürger Sachsen Sonderrechte, da sie vor allem zum Schutz der Ostgrenze dienten. Überwiegend wurden dort Agrarprodukte und Halbfertigwaren produziert und ihre Herkunft ist weitgehend ungeklärt. Wikipedia schreibt dazu:
Einige Forscher halten die türkischstämmigen Petschenegen, Kumanen, Baschkiren oder Wolgabulgaren für Vorfahren der Szekler, die in der Gefolgschaft der Magyaren sprachlich assimiliert wurden, andere halten sie aufgrund genetischer Studien für eine ursprünglich iranische Ethnie.
Quelle: -> https://de.wikipedia.org/wiki/Szekler
Die Siebenbürger Sachsen, als kleinste Bevölkerungsgruppe, gründeten sehr schnell befestigte Städte, in denen sich Handwerkszünfte ansiedelten. Hier wurden auch die Produktion der Szekler veredelt und hier befanden sich auch die größten Handelsplätze. Auch die großen Märkte für in- und ausländische Abnehmer fanden hier statt.
In Siebenbürgen gab es als Verwaltungseinheiten neben den Szeklergebieten und den Sieben Stühlen noch die sogenannten Kominate, die seit dem 13. Jhdt. vom ungarischen Adel verwaltet wurden und deren Gemeinden und Bauern „grundhörig“ waren. Sie waren dem jeweiligen Adel abgabenverpflichtet und der Adel bündelte Leib-, Grund- und Gerichtshandschaft an den jeweiligen Lehnsherren. Durch die sogenannte -> Schollenbindung (Bindung des Leibeigenen an Grund und Boden) war ein Entkommen aus diesem System praktisch nicht möglich. Grundhörige Bauern waren daher fast bedingungslos den Launen des jeweiligen Lehnsherrn ausgeliefert. Diese Leibeigenschaft wurde erst 1848 aufgehoben.
Alle drei Stände lebten mehr oder weniger hermetisch voneinander getrennt und nur auf den regelmäßig stattfindenden Landtagen wurde in Kuriatvoten gemeinsam entschieden, wobei bis 1792 Beschlüsse einstimmig gefasst werden mussten. Dies wurde auf Betreiben des ungarischen Adels geändert, wobei der von den Siebenbürger Sachsen verhandelte Kompromiss ihnen weiterhin gleiche Rechte gestattete. Es gab ab dieser Zeit nämlich ein Veto-Recht, so dass ein Kuriatvotum dennoch verhindert werden konnte und dem Beschluss kein Nationalsiegel erteilt werden konnte.
Völlig außen vor blieben die zahlenmäßig nicht unerheblichen Rumänen, die kein Stimmrecht besaßen.
Die Verwaltung der Siebenbürger Sachsen im 19. Jhdt.
Mit den alten Sonderrechten ausgestattet, bewirtschafteten die Siebenbürger Sachsen, die in den dörflichen Gebieten eines Stuhls wohnten eigenen Boden, wie sie das seit ihrer Ansiedlung gewohnt waren. Auch Felder, Äcker und der Wald waren im Eigentum der Ortschaften, ebenso wie Wirtshaus, Fleischbank, Mühle, etc.. Nur in Städten waren z.B. Fleischbänke an die Zünfte abgetreten, aber es scheint ausreichend Gesetzeslücken gegeben zu haben, so dass auch Nichtzunftmitglieder Fleisch verkaufen konnten.
Zur Verwaltung der Ortschaften wurden als Ortsbeamte für zwei Jahre ein „Hann“ (Bürgermeister) samt einem Beisitzer, ein „Wirtschafter“, ein „Waisenvater“, ein Steuereinnehmer und ein stimmloser Schreiber bestellt. Größere Ortschaften (Flecken) bestimmten zusätzlich einen Richter, der bis ins 17. Jhdt. noch das jus gladii (Recht über Leben und Tod) bestimmen konnte und einen Notar (Notär). Städte wurden von Senatoren, die von den Stühlen aus den Kreisbehörden und dem Magistrat der jeweiligen Stadt gewählt wurden, verwaltet.
Am Beispiel von Deutsch-Kreuz wird das Gesetzgebungsverfahren in den Ortschaften und Flecken so beschrieben:
In Deutsch-Kreuz wurden die Zivilgesetze für gute Organisation und Zusammenleben von den Dorfbewohnern vorgeschlagen und vom Dorfvorstand besprochen, der aus siebzehn von der Gemeinde für ein Mandat von jeweils 4 Jahren gewählten Männer bestand. Der Pfarrer gehörte zum Presbyterium, das aus sieben Weisen, von der Gemeinde ausgewählten Alten, gebildet war. Es war eine Art Oberhaus, das die Vorschläge des Vorstands analysierte und endgültige Beschlüsse traf. In diesem Forum hatte der Pfarrer keine zusätzlichen Rechte, sondern nur ein Abstimmungsrecht, wie jedes andere Mitglied.
Quelle: Nachbarschaften der Siebenbürger Sachsen in Deutsch-Kreuz, ISBN 978-606-008-086-2
[…]
Die Entscheidungen wurden den Dorfbewohnern entweder in der Kirche oder schriftlich jedem Nachbarschaftsleiter mitgeteilt, der sie verantwortungsbewusst in der Nachbarschaftslade aufhob.
Zweimal jährlich fand der Nationalkonflur statt, die sogenannte Universitas Saxonum. Diese autonome Verwaltung hatte von 1486 bis 1876 Bestand und garantierte die politische Selbstverwaltung. Bis zur Mitte des 19 Jhdt. entschieden je zwei Abgesandte aus den freien Kreisen und Stühlen über nationale Belange.
Das Ende der Selbstverwaltung Siebenbürgens
Nach 1876 und der Abtretung Siebenbürgens durch Österreich an Ungarn wurde die Nationalversammlung aufgelöst und als Stiftung weitergeführt, bis Siebenbürgen nach dem ersten Weltkrieg an Rumänien fiel. In der rumänischen Agrarreform 1921 wurde sämtlicher Besitz an Wäldern und unbebauten Grundstücken ersatzlos enteignet. 1937 wurde die Stiftung aufgelöst und das Nationalarchiv, etliche Gebäude in Sibiu (dt. Hermannstadt) und die Agrarschule in Medias gingen an die Evangelische Kirche A.B.. Alle anderen Immobilien wurden der rumänisch-orthodoxen Kirche übertragen.
Auf der lokalen Ebene regelten die Ortschaften und Flecken ihre Belange weitgehend selbständig und waren nur an die Beschlüsse der Kuriatvoten bzw. den Beschlüssen mit Nationalsiegel gebunden.
Die Naher (Nachbarschaften)
Raluca Maria Frîncu nimmt in Ihrer Forschungsarbeit Solidarități socio-economice, vecinătăți din sudul Transilvaniei an, dass die Ursprünge der Nachbarschaftsorganisation von fränkischen Einwanderernim 11. und 12. Jhdt. mitgebracht wurden. Ob Bürgermeister, Pfarrer oder Anführer, alle Ämter wurden durch die Stimmen der Mehrheit bei Wahlen besetzt.
Wer keiner Zunft angehörte war in einer Nachbarschaft organisiert. Jede Ortschaft wurde in Zehntschaften bzw. Nachbarschaften eingeteilt, die meist von Nachbarn entlang einer Straße gebildet wurden und denen ein Nachbarvater oder wie in Deutsch-Kreuz ein Altnachbarvater und ein Jungnachbarvater vorstand, um Wissen weiterzugeben. Dieser Nachbarvater oder Vorsteher wurde von den Männern gewählt und es war ein unendgeldliches Ehrenamt.
Die Aufgaben der Nachbarschaften bestanden im wesentlichen in der Hilfeleistung bei den bedeutenden Ereignissen in Familien, wie Taufen, Hochzeiten und Begräbnissen. Aber auch die Hilfe beim Bau oder der Renovierung war unter den Nachbarn auf Gegenseitigkeit üblich. Darüberhinaus organisierte der Nachbarvater auch gemeindliche Aufgaben wie die Instandsetzung von Wegen, Gräben und Gewässer mit der Nachbarschaft. Er hatte auch für die Beilegung von Ehe- und Nachbarschaftsstreitigkeiten zu sorgen und auf die Einhaltung der Traditionen und der Sittlichkeit zu achten. Fehlverhalten trug er ins Nachbarschaftsheft ein und den Beteiligten wurden durchaus auch bis zur Beilegung des Streits oder der Zahlung der fälligen Strafen reguläre Rechte entzogen. Selbst Kleinigkeiten, wie das zu spät kommen zur Kirche oder zum Bau einer Scheune waren sanktioniert und die Legende der deutschen Pünktlichkeit hat in Rumänien hier vielleicht ihren Ursprung.
Finanziert wurden die Nachbarschaften durch die Beitrittsgebühren bei der Aufnahme durch das Erreichen des Erwachsenenalters, Heirat oder Zuzug, Gebühren nicht mehr arbeitsfähiger Mitglieder und Geldstrafen für Regelverstöße. Auch einseitig ausgeführte Nachbarschaftsarbeiten zugunsten der Kirche, wie das Ausheben der Gräber, Holzspalten für das Pfarrhaus, etc. wurden vom Pfarrer an die Nachbarschaftslade bezahlt. Zudem war sein Status innerhalb der Nachbarschaft nicht hervorgehoben und für ihn galten die gleichen Rechte und Pflichten wie für alle anderen Nachbarn. Weiterhin gab es Eigentum der Nachbarschaft, wie Tische, Stühle, Töpfe und Geschirr, die gegen eine geringe Gebühr von der Frau des Nachbarvaters verwahrt wurden und ausgeliehen werden konnten.
Die Regelungen der Nachbarschaftsordnung umfaßten auch teils persönliche Bereiche, wie Kleidervorschriften für bestimmte Feiertage. Die Einhaltung der kirchlichen Regelungen war selbstverständlich. Nach Bedarf konnte diese Ordnung im Einvernehmen der Nachbarn auch geändert werden.
Der Sittag (auch Richttag)
Einmal jährlich wurde in der Regel am Sonntag vor Aschermittwoch (in manchen Gegenden auch am Aschermittwoch) ein Sittag abgehalten, an dem alle Streitigkeiten geschlichtet und noch nicht geahndete Verstöße gegen die Nachbarschaftsordnung beurteilt wurden. Die Männer versammelten sich dazu beim Nachbarvater und schworen auf das Nachbarschaftszeichen, das aus Holz geschnitzt war und als Ersatz für die Bibel diente, um selbige zu schonen. Nach einer Inventur der Lade wurden die im Nachbarschaftsheft vermerken Fälle verhandelt. Ruxandra Hurezean beschreibt das Vorgehen in Deutsch-Kreuz so:
…, der angeklagte Nachbar, der sich verspätet hatte oder ohne Entschuldigung bei der gemeinsamen Arbeit gefehlt hatte, musste das Zimmer verlassen. Er sollte beim Gerichtsurteil nicht zugegen sein, damit er nicht Hass oder Feindseligkeit für die Nachbarn hegt, die ihn strenger bzw. milder beurteilt hatten. Am Ende schworen alle auf das Nachbarschaftszeichen, nie weiter zu sagen, was dort besprochen wurde, damit sich keine Feindseligkeit zwischen den Nachbarn breit macht.
Quelle: Nachbarschaften der Siebenbürger Sachsen in Deutsch-Kreuz, ISBN 978-606-008-086-2
Die Nachbarschaft musste sich in ihren Urteilen einmütig auf ein Strafmaß einigen, das in der Regel in einem Geldbetrag bestand und sofort an die Lade bezahlt werden musste. Über die Verwendung dieser Beträge entschied der Nachbarschaftsvater und das Presbyterium.
Am Richttag wurden auch neue gemeinschaftliche Vorhaben für das kommende Jahr beraten und beschlossen und der Nachbarschaftsvater neu oder wieder gewählt. Fand der Richttag am Sonntag vor Aschermittwoch statt, so folgte in der Regel ein großes Festessen beim neuen Nachbarschaftsvater statt, gefolgt von einem ausgelassenen Fest. Die Vorbereitung der Feierlichkeiten oblag den Frauen.
Die Nachbarschaften hatten auch nach dem Ende der Universitas Saxonum bis ins Ende des 20. Jhdts. und der Emigrationswelle der Siebenbürger Sachsen weiter Bestand.
Heute hat der Richttag hauptsächlich symbolischen Wert. An der Form wird festgehalten, auch wenn diese ihren ursprünglichen Inhalt verloren hat. Denn zum „Richten und Schlichten“ gibt es kaum etwas mehr. Eine rechtliche Instanz ist der Nachbarvater nicht mehr, und die gemeinschaftlichen Arbeiten sind freiwillig, deshalb gibt es keine Strafen mehr auszusprechen. Der Richttag ist heute eine festlich gehaltene Gemeindevertretersitzung, in der Probleme der Gemeinde besprochenwerden, z.B. die Frage, ob auf dem evangelischen Friedhof auch für andere Konfessionen Platz ist (Beispiel aus Petersberg).
Quelle: -> http://traditionen.evang.ro/fe/tradition/view/143
Uns mag das heute alles etwas überkommen erscheinen, aber offensichtlich hat diese Struktur der dörflichen Organisation jahrhundertelang zu einem guten Zusammenleben und einer ganz erstaunlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit beigetragen.
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Weitere Quellen außer den im Text genannten:
-> Nachbarschaften der Siebenbürger Sachsen in Deutsch-Kreuz – ISBN 978-606-008-086-2
-> Stephan Ludwig Roth, Verlag Albert Langen/Georg Müller München, 1937
Danke an Jens für die zur Verfügung gestellte Literatur!